Venedigs Kulturgüter in und nach den Kriegen des 20. Jahrhunderts – Schutz, Abtransport, Rückführung

Venedigs Kulturgüter in und nach den Kriegen des 20. Jahrhunderts – Schutz, Abtransport, Rückführung

Organisatoren
Centro Tedesco di Studi Veneziani / Deutsches Studienzentrum Venedig
Ausrichter
Centro Tedesco di Studi Veneziani / Deutsches Studienzentrum Venedig
Förderer
Fritz Thyssen Stiftung
Ort
Venedig
Land
Italy
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
25.09.2022 - 02.10.2022
Von
Madeleine Schneider, Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik, Technische Universität Berlin; Viktoria Taboga-Strauß, Institut für Kunstgeschichte, Universität Regensburg; Florina Weber, Kunsthistorisches Institut, Universität Bonn; Angelina Wiederhöft, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Der diesjährige Studienkurs des Deutschen Studienzentrums Venedig widmete sich Venedigs Kulturgütern vor, während und zwischen den Weltkriegen. Anhand lokaler Fallbeispiele wurden Leitfragen zur Entstehung eines Kanons in Kriegszeiten und das Verhältnis von Kulturgut und Identitätsbildung behandelt. Dabei prägten stets die Sonderstellung Venedigs und die lokal spezifischen Akteur:innen die Diskussionen. Zur Thematik diskutierten 13 Masterstudierende und Promovierende aus ganz Deutschland, aus verschiedenen Disziplinen (Geschichts- und Filmwissenschaften, Kunstgeschichte, Rechtswissenschaften und Provenienzforschung) unter der Leitung von Lutz Klinkhammer (DHI Rom) und Bianca Gaudenzi (DHI Rom / Universität Konstanz). Nicht nur aufgrund der Studienschwerpunkte, sondern auch aufgrund der persönlichen Interessensfelder der Teilnehmenden entstanden anregende und vielseitige Diskussionen.

Nach einer kurzen fachlichen Einführung durch die Kursleiter:innen stiegen die Teilnehmenden mit einer Einführung durch JUSTUS HIERLMEIER (Jena) zu den Schutzmaßnahmen vor Zerstörungen in Venedig vor dem Ersten Weltkrieg in das Thema ein. Dabei wurde deutlich, dass auch die Militärgeschichte und der Einbezug der geographischen Lage Venedigs für einen Umgang mit diesem Thema ausschlaggebend ist.

LISA SCHEFFERT (Freiburg im Breisgau) knüpfte mit ihrer Präsentation zur Nationalisierung von Kunst und Kulturgütern an diese Thematik an. Dabei legte der Fokus auf Identitätsschaffung durch Kulturgut das Fundament für die in den folgenden Tagen stattfindenden Diskussionen.

Eine Führung durch den Markusdom und den Dogenpalast weckte Bilder von deren Schutz durch Holzgehäuse und Algenmatratzen. Loredana Giacomini, die mit ihrem profunden Wissen durch die beiden komplexen Gebäude führte, verdeutlichte anschaulich deren Stellenwert in der Lagunenstadt und deren historische Bedeutung. Eine temporäre Ausstellung in den Räumen des Dogenpalastes zeigt Werke von Anselm Kiefer. Die modernen Werke, die sich mit den darunterliegenden Gemälden von Tintoretto auseinandersetzen und sie neu interpretieren, gliedern sich erstaunlich gut an den Gebäudekörper an und wirken zugleich merkwürdig fremd.

Die Vorträge des zweiten Kurstages leiteten chronologisch vom Ersten Weltkrieg in die Zwischenkriegszeit und den Zweiten Weltkrieg über; anhand von Fallbeispielen und Einzelobjekten wurde das Wissen über Zusammenhänge, Netzwerke und Akteure vertieft. ANTONIA J. SLAWIK (Münster) ging auf Diskussionen über die Kriegsschäden Venedigs nach 1918 ein und legte mögliche rechtliche Grundlagen für konkrete Schutzzonen durch die Haager Landkriegsordnung (1907) dar.

NORA JAEGER (Bonn) präsentierte dem Plenum die Abtransporte der Quadriga von St. Marco, die als Ikone der Schutzmaßnahmen gilt, und stellte gleichzeitig die Frage nach identitätsstiftenden Symbolen der città lagunare und deren Evakuierung in der öffentlichen Wahrnehmung. Besonders Ugo Ojettis photographische Dokumentationen (teilweise in seiner Schrift „I monumenti italiani e la guerra“ im Jahr 1917 veröffentlicht) wurden unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Inszenierungsintention diskutiert.

Anhand der Translokation der „Assunta“ von Tizian gab VIKTORIA TABOGA-STRAUSS (Regensburg) Einblicke in Fluchtwege und -mechanismen sowie Schutzorte und -depots venezianischer (mobiler) Kunstwerke in beiden Weltkriegen.

Monica Donaglio führte durch die Sale Monumentali und Lesesäle der Biblioteca Marciana mit Fokus auf die Bestandshistorie und den Umgang der Bibliothek mit Kriegs- und Krisenzeiten. Auch über moderne Schutzmechanismen und -pläne in der vom Hochwasser betroffenen Stadt (besonders nach 2019) wurde informiert. Am Abend wohnten die Teilnehmenden dem ArtistTalk mit dem Schriftsteller und Übersetzer Mathias Traxler im Studienzentrum bei.

Den Studienkursteilnehmer:innen wurde einmal mehr deutlich, dass Kulturgüter nicht nur künstlerische Objekte sind, sondern auch bibliothekarische, archivarische und cinegraphische Zeugnisse, die heute als wichtige Quellen für die Forschung unerlässlich sind. LARA WINONA BASSO (Saarbrücken) widmete sich dem besonderen Umgang mit handschriftlichen Quellen und deren Ab- und Rücktransport sowie der fachgerechten Lagerung.

Im Anschluss stand das faschistische Italien und dessen Verbindung zum Deutschen Reich im Fokus der Vortragenden. Die Kunst wurde als propagandistisches Instrument der späten 1930er-Jahre missbraucht, um die Vormachtstellung der „Achse” auch visuell zu bestärken. Die Macht des Visuellen wurde anhand des architektonischen Umbaus des Deutschen Pavillons auf der Biennale 1938 augenfällig. TABEA WICH (Heidelberg) erweiterte das Betrachtungsfeld auf die literarischen, CHIARA BOHN (Siegen) auf die cinegraphischen Erzeugnisse im Umfeld der deutsch-italienischen Kulturachse vor und während des Zweiten Weltkrieges.

Ergänzt und bereichert wurde die Vortragsreihe durch den Besuch von Irene Spada vom Denkmalamt Venedig, die ihre interne Sicht auf die administrativen Abläufe von Kulturgüterschutz darlegte. Als besonderes Highlight stellte Katharina Hüls-Valenti (Doktorandin an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz) ein noch unveröffentlichtes Fallbeispiel einer Beschlagnahme von jüdischem Kunstbesitz in Venedig vor. In der Diskussion wurde erkennbar, dass dieses Thema in Italien ein dringliches Desiderat der Forschung darstellt.

Die Vorträge des Folgetages widmeten sich der Rückführung von Kulturgütern während des Zweiten Weltkriegs. Besonders die Protagonisten der Soprintendenza (italienisches Denkmalamt) hatten die Studienkursteilnehmenden bereits am Tag zuvor durch Irene Spada einführend kennengelernt. An dieses Wissen konnte nun anhand von Fallbeispielen angeknüpft werden. Das Konzept des Kunstschutzes innerhalb Italiens während des Krieges beleuchteten FLORINA WEBER (Bonn) und FILOMENA LOPEDOTO (Düsseldorf) aus zwei Perspektiven − auf den deutschen und den italienischen Kunstschutz. Dabei wurde deutlich, dass die Zuständigkeiten und Mechanismen der jeweiligen Behörden in die Untersuchung der Thematik einbezogen werden müssen. Für Italien und Venedig bedeutet dies, die Struktur der deutschen Militärverwaltung ab 1943 sowie die Umstrukturierung der Denkmalämter 1939 zu berücksichtigen.

Danach lag die Rückführung der Objekte, im speziellen in der unmittelbaren Nachkriegszeit, im Zentrum der Diskussion. Es ergänzten sich zwei Standpunkte mit dem Fokus auf Kunstobjekte aus öffentlichen Sammlungen und auf jüdisches Kulturgut aus privatem und Gemeindebesitz, die ANGELINA WIEDERHÖFT (Würzburg) und MADELEINE SCHNEIDER (Berlin) vortrugen. Dabei spielten vermehrt die Sensibilisierung für Quellenmaterial, die Notwendigkeit von kritischer Urteilskraft sowie der schwerfällige Prozess der Auflösung von Legendenbildung eine Rolle. Es konnten Parallelen zur heutigen Frage im Bezug zur Restitutionsdebatte in Italien gezogen werden.

Im Anschluss, thematisch in Übereinstimmung mit dem Vortrag über den Umgang mit jüdischem Kulturgut, wurden das ehemalige Ghetto sowie zwei nach wie vor religiösen Funktionen dienende Synagogen besichtigt. Dabei kristallisierten sich einige Besonderheiten der jüdischen Gemeinde in Venedig heraus, und die Bedeutung der zuvor diskutierten Objekte aus dem Seminarraum wurde in Bezug zur religiösen Praxis fassbar.

Der letzte Programmtag begann in der Frari-Kirche, wo die Teilnehmenden Werke besichtigen konnten, deren Fluchtgeschichten und Depotaufenthalte in den Tagen zuvor vorgestellt worden waren, wie den Ambrosius-Altar von Alvise Vivarini und Marco Basaiti, (1503). Bedauerlicherweise blieb ein Blick auf die „Assunta“ Tizians verwehrt; sie wurde der Öffentlichkeit nach jahrelanger Restaurierung erst am 3. Oktober präsentiert.
In den ehemaligen Kreuzgängen und Konventsgebäuden der Franziskaner ist das Archivio di Stato di Venezia (Staatsarchiv) untergebracht, durch das der Archivar Andrea Pelizza führte. Dieser Besuch bot auch die Gelegenheit, einige originale Dokumente aus den Weltkriegszeiten zu sichten, die Pelizza bereitgelegt hatte. Im Anschluss konnten die Teilnehmenden die eindrucksvolle Scuola Grande di San Rocco bestaunen; über den dortigen Schutz der Schatzkammer war bereits am Mittwoch referiert worden.

Zuletzt stellte FELIX WAHLER (London) die deutsche Kunstakquise während des Zweiten Weltkriegs vor, die in zwei Phasen eingeteilt werden kann. Eine erste dauert bis zur Besetzung Italiens und zeichnet sich durch diplomatische Beziehungen und Aktivitäten deutscher Kunstagenten in Italien aus. Mit dem Beginn organisierter Enteignungen stellt der 8. September 1943 einen Wendepunkt dar; dabei stand die propagandistische Inszenierung eines nationalsozialistischen „Kunstvolks“ stets im Vordergrund. Wie in der anschließenden Diskussion betont wurde, taten sich während und nach dem Krieg Akteure hervor, die in Restitutionsdebatten eine wichtige Rolle einnahmen und weiterhin erforscht und kritisch beleuchtet werden sollten. Zudem wurde deutlich, dass eine umfassende Netzwerkanalyse sowie ein Fokus auf Einzelobjekte und Fallbeispiele notwendig sind, um durch analytisches Vorgehen Wissensgewinn zu ermöglichen.

Einen inhaltlichen Schlusspunkt des Studienkurses bildete der öffentliche Abendvortrag von Lutz Klinkhammer (Rom), der nicht nur die Unterschiede zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg für Venedigs Kulturgüter deutlich machte, sondern auch auf methodische und interpretatorische Problematiken im Umgang mit diesem Thema in und nach den Kriegen des 20. Jahrhunderts verwies.

Die zu Beginn des Studienkurses formulierten Leitfragen wurden in unterschiedlichen Kontexten und vor dem Hintergrund des erworbenen Wissens diskutiert. Besonders die vielfach anklingende Genese einer Identitäts- und Einheitsbildung durch Kulturgut kam anhand vielseitiger Bezüge wiederholt zur Sprache. Die Rolle von Kunstwerken während der Kriege, die visuelle Inszenierung von Schutzvorgängen und die Umdeutung von Kulturgut in Kulturerbe können den Teilnehmenden als Inspiration für Abschlussarbeiten und weitere Forschung.

Konferenzübersicht:

Marita Liebermann (Venedig): Begrüßung

Bianca Gaudenzi (Rom/Konstanz) / Lutz Klinkhammer (Rom): thematische Einleitung

Justus Hierlmeier (Jena): Schutzmaßnahmen vor Zerstörungen im Ersten Weltkrieg: Objekte und Akteure

Lisa Scheffert (Freiburg im Breisgau): „Nationalisierung“ von Kunst im Ersten Weltkrieg

Antonia J. Slawik (Münster): Diskussion um die Kriegsschäden Venedigs nach dem Ersten Weltkrieg und Vorbereitung auf den nächsten Krieg

Nora Jaeger (Bonn): Der „leere“ Markusplatz: Schutz für Venedigs identitätsstiftende Wahrzeichen?

Viktoria Taboga-Strauß (Regensburg): Tizians Marienhimmelfahrt und andere Kulturschätze Venedigs auf der Flucht

Lara Winona Basso (Saarbrücken): Schutz und Gefährdung von Venedigs Bibliotheken, Archiven und Schatzkammern im Ersten und Zweiten Weltkrieg

Tabea Wich (Heidelberg): Das Venedigbild deutscher Intellektueller und die deutsche Kulturpolitik gegenüber Venedig seit 1938

Chiara Bohn (Siegen): Die Biennale und die deutsch-italienische Kulturachse im Zweiten Weltkrieg

Treffen mit Irene Spada vom Denkmalamt Venedig

Katharina Hüls-Valenti, Beschlagnahmungen von jüdischem Kunstbesitz am Beispiel der Sammlung Adele Salom

Florina Weber (Bonn): Venedig als Depotstadt für die Abteilung Kunstschutz der deutschen Militärverwaltung in Italien

Filomena Lopedoto (Düsseldorf): Italienischer Kunstschutz in Venedig im Zweiten Weltkrieg

Angelina Wiederhöft (Würzburg): Die Rückführung von geschützten Objekten nach Venedig nach 1945 durch den italienischen Staat

Madeleine Schneider (Berlin): Die Problematik der Rückkehr des beschlagnahmten jüdischen Kulturgüter-Besitzes

Felix Wahler (London): Der venezianische Himmel über Berlin – deutsche Kunstakquise 1941-45 und die deutsch-italienische Restitutionsdebatte

Öffentlicher Abendvortrag

Lutz Klinkhammer (Rom): Granate e soldati. Il patrimonio culturale di Venezia in guerra

Führung Biennale mit Petra Schaefer (Venedig)